In seinem utb-Band Lernen, verstehen, Prüfungen meistern erläutert Franz Schott die Wichtigkeit des "Verstehens" gegenüber dem stupiden Auswendiglernen von Lernmaterial. Denn was man auch wirklich versteht, dass bleibt uns in Erinnerung.
In der Pädagogik wird immer wieder betont, wie wichtig das Verstehen beim Wissenserwerb ist. Lernende sollen sich nicht nur unverbundenes Faktenwissen eintrichtern, sondern vielmehr Verständnis für Zusammenhänge erwerben. Leider wird von den Lernenden in Prüfungen oft nur Faktenwissen abgefragt!
Was das Verstehen betrifft, so geht es in diesem Ratgeber um zweierlei:
1. Wenn wir jetzt das Verstehen näher behandeln, dann können wir dabei noch einmal ausführlich darlegen, wie wichtig der Umgang mit der „eigenen Wissensstruktur“ für jede Art von Lernen ist.
2. Wir meinen, dass das hier beschriebene Verständnis von Verstehen helfen kann, mit den eigenen Lernprozessen besser vertraut zu werden, umso erfolgreicher lernen zu können.
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Wir haben erläutert, warum Verstehen als individuelles Nutzbar-Machen des Gelernten den Lernerfolg steigern kann, und behandeln deshalb im Folgenden einige Formen eines solchen Verstehens. Dabei verstanden wir das „Nutzbar-Machen des Gelernten“ als ein Anwenden im weiteren Sinne, nämlich das Heranziehen des Gelernten für eine bestimmte Aufgabenlösung. Wenn in diesem Abschnitt von „Verstehen als Anwenden“ die Rede ist, dann meinen wir ein Anwenden im engeren Sinne, nämlich das unmittelbare Verwenden des Gelernten, ohne weitere Aspekte hinzuzuziehen. […]
Wir meinen hier also mit Verstehen als Anwenden die unmittelbare Anwendung des Gelernten. Ein einschlägiger Fall ist das Finden von Beispielen für das Gelernte, etwa sich Anwendungsbeispiele für eine ethische Regel auszudenken. Ein solches Anwenden findet auch statt, wenn wir Handlungsanweisungen ausführen, etwa nach einem Rezept ein bestimmtes Gericht kochen.
Der Lernerfolg wird beim Verstehen als Anwenden dadurch gefördert, dass das Gelernte mit anderen Gedächtnisinhalten verknüpft und damit besser in der eigenen Wissensstruktur verankert wird.
Übungsaufgabe:
Denken Sie sich einen anwendungsorientierten Lernstoff aus und versuchen Sie zu diesem verschiedene Anwendungen zu finden!
Beim Verstehen als Vergleichen geht es darum, einen bestimmten Lerngegenstand von anderen Gegenständen zu unterscheiden. Die typische Frage, die dabei zu beantworten ist, lautet: „Worin unterscheidet sich der Lerngegenstand von einem bestimmten anderen Gegenstand aus demselben Lernthema“?
Zum Beispiel: Worin unterscheidet sich:
• die ethische Regel „Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem andern zu!“ vom „Kant’schen Imperativ“,
• ein „Würfel“ von einem „Zylinder“,
• „Kultur“ von „Zivilisation“,
• „Mousse au chocolat“ von „Zabaione“?
Bei solchen Vergleichen sollte man das Unterschiedliche ebenso herausarbeiten wie das Gemeinsame.
Der Lernerfolg wird beim Verstehen als Vergleichen dadurch gefördert, dass das Gelernte gegenüber anderen Gegenständen aus dem gleichen Lernthema kontrastiert wird. Dies führt zu einer genaueren Begriffsbestimmung und zu einer vielfältigeren Verankerung des Gelernten in der eigenen Wissensstruktur.
Übungsaufgabe:
Versuchen Sie Verstehen als Vergleichen, wie es hier beschrieben ist, an einem eigenen Beispiel durchzuführen!
Beim Verstehen als Perspektivwechsel geht es darum, den Lerngegenstand aus einer neuen, bisher nicht eingenommenen Sichtweise zu betrachten. Typischerweise versucht man hier Antworten auf Fragen in der folgenden Form zu finden: Wie ist ein bestimmter Gegenstand oder Sachverhalt zu beurteilen, wenn er aus der Sichtweise A oder Sichtweise B betrachtet wird? Zum Beispiel: „Wie ist die Sterbehilfe aus der Sichtweise des Betroffenen, aus der Sichtweise der Angehörigen und aus der Sichtweise des Arztes zu betrachten?“ Oder: „Wie ist Lernen mit Lernpartnern aus der Sichtweise der Vorteile und aus der Sichtweise der Nachteile zu beurteilen?“
Der Lernerfolg beim Verstehen als Perspektivwechsel wird dadurch gefördert, dass hier wiederum verschiedene Bezüge in der eigenen Wissensstruktur hinsichtlich des Gelernten gestiftet werden. Dadurch wird der Lernstoff stärker im Gedächtnis verankert.
Außerdem gilt oft: Etwas einseitig zu betrachten ist einfältig!
Übungsaufgabe:
Versuchen Sie Verstehen als Perspektivwechsel, wie es hier beschrieben ist, an einem eigenen Beispiel zu veranschaulichen!
Es gibt Lerngegenstände, bei denen man bestimmte Aspekte variieren kann. Beim Garen von Gemüse kann man variieren, ob es im Wasser oder nur im Dampf gart und wie lange es geschieht. Beim zwischenmenschlichen Verhalten kann man variieren: die Größe der Gruppe, die Vertrautheit der Gruppenteilnehmer untereinander, die wahrgenommene Strenge der Gruppennormen usw. Bei mathematischen Funktionen kann man die Anzahl der Variablen und ihre Beziehung zueinander variieren. Das Variieren ist ein wichtiger Gesichtspunkt bei der Kreativität.
Beim Verstehen als Variieren versucht man Fragen folgenden Typs zu beantworten: „Was geschieht, wenn ich bei einem bestimmten Gegenstand oder Sachverhalt diesen oder jenen Aspekt verändere?“
Der Lerngewinn beim Verstehen als Variieren besteht darin, dass ähnlich wie beim Verstehen als Perspektivwechsel bestimmte Aspekte gedanklich geändert werden, dadurch der Lerngegenstand in vielfältiger Weise betrachtet und auch so eine stärkere Vernetzung des Lerngegenstandes in der eigenen Wissensstruktur gefördert wird.
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Übungsaufgabe:
Versuchen Sie Verstehen als Variieren, wie es hier beschrieben ist, an einem eigenen Beispiel durchzuführen!